Vortrag von Dr. G. G., Tübingen, bei der Freimaurerloge „In Labore Virtus“ Logenhaus Lindenhof, Zürich, 8. November 2010
Ein Weltethos – notwendiger denn je
Seit Jahren ist eines der zentralen gesellschaftlichen Themen in den meisten Ländern Europas der Umgang mit Menschen unterschiedlicher Kultur und Religion. Debatten über Integration und sogenannte Parallelgesellschaften, über Religionsfreiheit und den Platz der Religionen im säkularen Staat, über Kopftücher und Minarette nehmen breiten Raum ein. In drei Wochen wird über die Ausschaffungsinitiative abgestimmt, auch dies ein Anlass, über den Platz von Menschen nachzudenken und zu debattieren, die von anderswoher in die Schweiz gekommen sind. All diese gesellschaftlichen Probleme können nicht dadurch gelöst werden, dass man einen „Zusammenprall der Kulturen“ beschwört. Zukunftweisender scheint es mir, die konstruktive Begegnung, die Verständigung und den Dialog der Kulturen und Religionen auf jede Weise zu fördern und alle Chancen dazu in der Praxis wahrzunehmen. In einer pluralistischen Gesellschaft muss ein Diskurs über ethische Grundlagen, über Grundwerte gesucht werden, der alle Partner mit einschliesst. Jedes Zusammenleben von Menschen, sei es in Familien und Lebensgemeinschaften, Gruppen, in Schule und Hochschule, am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft oder der Welt als ganzer, erfordert ja einen immer wieder neu zu findenden Konsens der Einzelnen und der Gruppen über einige grundlegende gemeinsame Werte und darauf basierende Massstäbe für das individuelle wie kollektive Handeln. Natürlich existiert ein solcher Konsens in der Bundesverfassung oder, noch umfassender, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Doch damit diese Grundrechtsdokumente zum Tragen kommen, braucht es eine noch tiefer liegende ethische Grundlage. Wo Menschen in Frieden zusammenleben wollen, brauchen sie also ein gemeinsames ethisches Fundament, ein tragendes Ethos.
Gibt es zwischen Menschen aller Religionen und darüber hinaus auch nicht-religiöser humanistischer Weltanschauung eine gemeinsame Basis für einen solchen Dialog und damit für ein friedliches und kreatives Zusammenleben – über die Basis des gemeinsamen Menschseins hinaus? Mit dieser Frage hat es die Idee eines Weltethos zu tun. Sie will genau ein solches Fundament bewusst machen. Denn in den religiösen und philosophischen Traditionen der Menschheit finden sich für zentrale Lebensbereiche seit uralten Zeiten Formulierungen solcher allen gemeinsamer ganz elementarer ethischer Massstäbe, die auf der Suche nach einem guten Leben für den Einzelnen und nach einer guten Gesellschaft helfen sollen. Sie können auch heute Orientierungslinien darstellen, um Gesellschaft und Welt letztlich vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Diese Tatsache kann einen Brückenbau zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen erleichtern, der für unsere heutige pluralistische und plurikulturelle Welt und Gesellschaft lebensnotwendig ist. Kann aber die Idee eines Weltethos wirklich den Dialog der Kulturen und Religionen fördern, eine Brücke zwischen den Kulturen bilden? In meinen Überlegungen will ich eine Antwort auf diese Frage anbieten.
Doch hier ist gleich zu Anfang daran zu erinnern: Der Begriff „Weltethos“ ist längst nicht mehr nur ein Fachbegriff von Theoretikern und Praktikern des interkulturellen und interreligiösen Dialogs. Die Denkrichtung, die er bezeichnet, macht ihren Weg durch die Medien und wird in den verschiedensten Zusammenhängen nicht nur von Religionsleuten, sondern gerade auch von säkularen Intellektuellen, Politikern und Wirtschaftsvertretern als hilfreich bei der Suche nach einer ethischen Grundlage für pluralistische Gesellschaften in einer sich globalisierenden Welt angesehen.i Die Genese der Weltethos-Idee hängt zwar historisch-faktisch eng mit den Weltreligionen zusammen, aber Weltethos versteht sich als eine ethische Basis, die über die Religionen hinaus humanistisches Ethos ohne religiöse Begründung einbezieht – sonst wäre auch der in der Bezeichnung Weltethos liegende Anspruch unberechtigt und unsinnig.ii
Der Weltethos-Ansatz verdankt sich zwei Motivationssträngen, die sich an bestimmten Punkten treffen können:
– Der Suche nach verbindenden ethischen Werten, Normen und Haltungen angesichts des Wertewandels und gesellschaftlich/politischer Umbrüche in Zeiten der sogenannten Globalisierung, mit der jedoch Formen zunehmender Fragmentierung einhergehen. In einer solchen Zeit ist es dringend notwendig, dass die Globalisierung von Ökonomie, Technologie und Kommunikation abgestützt wird durch eine Globalisierung des Ethos, dass überhaupt ein Diskurs über kulturübergreifende gemeinsame ethische Standards geführt wird. Globalisierung braucht auch ein globales Ethos. Nicht zufällig veröffentlichte Hans Küng seine Programmschrift „Projekt Weltethos“ 1990, im Jahr nach den grossen Umwälzungen in Europa.iii Weltethos ist also einerseits ein ethisches Programm.
– Dem Bemühen um bessere Verständigung und Zusammenarbeit unter den Weltreligionen im Interesse des Weltfriedens. Grundlage ist die Überzeugung, dass die Religionen, aber auch humanistische Philosophien, tatsächlich auf der Basis ihrer oft jahrtausendealten ethischen Traditionen einen signifikanten Beitrag für eine friedlichere Welt leisten können. Dies aber nur, wenn sich ihre Anhänger die Gemeinsamkeiten der Religionen im Ethos bewusstmachen und sie ganz praktisch als Basis für gemeinsamen Einsatz in dieser Welt nehmen. Weltethos ist also andererseits ein interreligiöses Programm. Es will einen handlungsorientierten interreligiösen Dialog, einen Dialog der Tat, ermöglichen und unterstützen.
Damit ist der Weltethos-Ansatz ein Beispiel für die gerade in den letzten Jahrzehnten zunehmende Verflechtung ethisch-universaler und globaler Fragestellungen mit interreligiösen Dialogbemühungen. Diese Doppelstruktur des Weltethos bietet zudem eine grosse Chance: Weltethos kann nämlich gerade auch einen Zusammenprall zwischen einer Kultur philosophischer Rationalität und einer Kultur religiöser Sprachspiele überwinden und Brücken bauen. Wie jemand das Weltethos begründet, ob religiös oder nicht, ist zweitrangig. Der politische Philosoph Hans-Martin Schönherr Mann von der Universität München hat in seinem Buch „Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen“ bei einem breiten Spektrum von Philosophen des 20. Jahrhunderts Ansätze zu einem solchen universellen Ethos aufgespürt und untersucht. In einem zweiten Buch von 2010, „Globale Normen und individuelles Handeln. Die Idee des Weltethos aus emanzipatorischer Perspektive“ hat er noch systematischer über philosophische Begründungen und Wurzeln eines Weltethos reflektiert.iv
Dass ein solcher Brückenbau zwischen Philosophie und Religion auf der Ebene des Ethos real ist, zeigen interessanterweise in den letzten Jahren Aussagen gerade von einigen renommierten agnostischen und atheistischen Philosophen in Frankreich, mit denen ich mich etwas mehr befasst habe, und die auch für den Diskurs in der Schweiz wertvolle Inspiration geben können. Besonders André Comte-Sponville und Luc Ferry tun sich bei der Suche nach einer atheistischen oder säkularen Spiritualität hervor. Der in Frankreich sehr populäre André Comte-Sponville hat ein Buch mit dem Titel „L’esprit de l’athéisme“ verfasst (deutsch: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Diogenes, Zürich 2008). Darin geht er, ohne von „Weltethos“ zu sprechen, im Grunde genau von der Analyse aus, wie sie dem Projekt Weltethos zugrundeliegt: – Eine pluralistische Gesellschaft kann nicht Bestand haben ohne einen Minimalkonsens über einige Grundwerte, die von allen Mitgliedern geteilt werden. Es braucht eine „communion“, eine Gemeinsamkeit.
– Gerade in den religiösen und philosophischen Traditionen der Menschheit gibt es einen Schatz solcher gemeinsamer Werte. Diese sollten für den ethischen Diskurs einer säkularen Gesellschaft fruchtbar gemacht werden, aber auch für die Orientierung der einzelnen und den Dialog zwischen den Kulturen. Es braucht also zweitens eine „fidélité“, eine Treue zu diesem ethischen Schatz. Man darf nicht, so Comte-Sponville, gleichzeitig mit dem Verzicht auf Gott auf die ethischen, kulturellen und spirituellen Werte verzichten, die in seinem Namen verkündet wurden. Die Tatsache, dass diese Werte ursprünglich in den Religionen entstanden und durch sie weitergegeben wurden, bedeutet freilich nicht, dass diese Werte einen Gott brauchen, um zu existieren. Alles deutet aber darauf hin, dass wir diese Werte, diese Gemeinsamkeit und Treue brauchen, um in einer menschlich akzeptablen Weise zu leben.v Ich werde auf die beiden französischen Philosophen noch zurückkommen.
Die gesellschaftliche Situation in vielen Regionen der Welt ist bestimmt von einer Spannung zwischen Zusammenwachsen und Fragmentierung, zwischen Säkularisierung und einem bunten Markt der Religiosität. Dieser komplexen Wirklichkeit möchte die Weltethos-Idee Rechnung tragen, dazu möchte auch die Stiftung Weltethos mit ihrer praktischen Arbeit einen konstruktiven Beitrag leisten. Die Geschichte der Weltethos- Idee ist nunmehr etwa 20 Jahre alt: Begonnen hat alles bereits in den 1980er Jahren mit Seminaren über Weltreligionen am von Hans Küng geleiteten Institut für Ökumenische Forschung der Universität Tübingen. Da wurde mit der Zeit nämlich deutlich, dass die Religionen und Kulturen zwar ganz verschiedene Welt- und Menschenbilder, Philosophien und Lehrsysteme, Riten und Praktiken besitzen, dass sie aber sehr ähnliche, jedenfalls vergleichbare Positionen vertreten in der Frage, wie ein gutes Leben der Menschen miteinander aussehen sollte, wie sich die Menschen nicht nur miteinander, sondern auch der Umwelt gegenüber verhalten sollen. Und 4 diese kulturübergreifenden Parallelen in Fragen des Ethos – also der persönlichen Grundhaltungen, der Massstäbe, nach denen Menschen leben und der Normen, an die man sich halten soll – diese Parallelen wurden, in Anlehnung an gängige Begriffe wie Welt-Wirtschaft und Welt-Politik mit dem Begriff Welt-Ethos bezeichnet. Der Weltethos-Gedanke wurde von Hans Küng zum ersten Mal einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt in seinem Buch „Projekt Weltethos“ von 1990. Das “Parlament der Weltreligionen” 1993 in Chicago hat die massgeblich von Hans Küng entworfene “Erklärung zum Weltethos” angenommen und damit dem “Projekt Weltethos” einen weltweiten Impuls gegeben. Die “Erklärung zum Weltethos” gilt seither als eine Art Charta des Projekts Weltethos.
Die Weltethos-Idee hat als Ziel, den gesellschaftlichen Frieden, den Weltfrieden fördern zu helfen. Sie ist also kein Selbstzweck, es geht ihr auch nicht allein um den Dialog der Religionen, es handelt sich nicht um eine rein religiöse Idee, sondern sie steht in einem grösseren Zusammenhang, im Dienst des Friedens. Daher Hans Küngs Slogan “Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen!” Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die Verständigung und das friedliche Verhältnis der Religionen der einzige Schlüssel zu Gerechtigkeit und Weltfrieden wären; es handelt sich, philosophisch gesprochen, zwar nicht um eine hinreichende, aber um eine notwendige Bedingung.
Ausgangspunkt des Weltethos ist das Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung aller Menschen, ob religiös oder nicht, für die Zukunft unseres Planeten Erde und der Menschheit. In Abgrenzung von einer reinen Erfolgsethik wie von einer reinen Gesinnungsethik handelt es sich bei Weltethos um eine Dimension von Verantwortungsethik, die sich um die Bedingungen des Überlebens der Menschheit und der Menschlichkeit allen Lebens sorgt. Auf der Suche nach einer Basis, diese Verantwortung gemeinsam wahrzunehmen, wird gefragt, welche Gemeinsamkeiten im Ethos sich zwischen den Religionen empirisch feststellen lassen: es geht darum, diese wieder zu entdecken und bewusst zu machen, nicht etwa sie neu zu konzipieren oder gar zu erfinden. Diese interreligiöse Fragestellung führt zu einigen inhaltlichen Elementaraussagen. Das Basisdokument des Projekts Weltethos, die „Erklärung zum Weltethos“ des Parlaments der Weltreligionen in Chicago 1993, formuliert sie in zwei Prinzipien und vier Weisungen oder Selbstverpflichtungen vi:
1. Grundprinzip – das Humanitätsprinzip: Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden.
Im Zentrum dieses Grundethos steht also das, was Küng in seinem Buch von 1990 als ein “ökumenisches Grundkriterium” für ein gemeinsames Ethos bezeichnet, in dem alle Religionen übereinstimmen müssten, weil es überhaupt alle Menschen miteinander verbindet: das Humanum, das wahrhaft Menschliche. Diese grundlegende Erkenntnis ergibt sich aus der unveräusserlichen Würde jedes Menschen aufgrund seines blossen Menschseins, die ja auch den Menschenrechten zugrunde liegt. Der vorhin bereits erwähnte Philosoph André Comte-Sponville betont: „Treue gegenüber der Menschlichkeit und der Verpflichtung zur Menschlichkeit! Das nenne ich praktischen Humanismus, der keine Religion, sondern eine Ethik ist. ... Die erste Pflicht und das Prinzip aller anderen ist, menschlich leben und handeln. Die Religion 5 genügt dazu nicht, noch dispensiert sie davon. Der Atheismus allerdings auch nicht. vii
"In praktisch allen Kulturen und Religionen der Menschheit findet sich eine zweite Regel, welche dieses formale Grundprinzip entfaltet – die sogenannte „Goldene Regel“:
2. „Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.“
Oder positiv: „Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen.“ Diese Goldene Regel findet sich bereits bei dem chinesischen Weisen Konfuzius fünf Jahrhunderte vor Christi Geburt und zieht sich als ethische Norm durch alle Religionen hindurch. Sie ist auch von Philosophen wie z. B. Immanuel Kant, aber auch von heutigen Philosophen wie etwa dem Franzosen Luc Ferry auf nicht-religiöser Basis diskutiert worden und kann so in der Tat eine Grundlage ethischen Handelns bilden, auf der sich alle Menschen, gleich welcher Religion oder Weltanschauung treffen können. viii
Doch diese beiden Prinzipien schliessen in sich sehr konkrete Weisungen ein, von denen sich wenigstens vier ebenfalls in allen Religionen wiederfinden. Die Erklärung von Chicago formuliert sie folgendermassen:
Die Formulierungen dieser ethischen Leitlinien erinnern in der Chicago-Erklärung zwar an die Bibel, genauer an die sogenannten „Zehn Gebote“, besser „Zehn Worte“, der jüdischen Tradition, die dann auch vom Christentum übernommen wurden. Doch kein Geringerer als Thomas Mann hat in seiner Mose- Erzählung „Das Gesetz“ die Zehn Gebote als das „ABC des Menschenbenehmens“ bezeichnet und damit ausgedrückt, dass allein schon diese Formulierungen weit über einen begrenzten Kultur- und Religionsbereich hinausweisen.ix Noch interessanter ist dabei jedoch, dass auch in anderen Religionen, etwa im Buddhismus und im Islam, sich ganz ähnliche ethische Forderungen finden. Ein Vergleich zwischen den Zehn Geboten der Bibel und einem islamischen ethischen Kodex, wie er sich in der Sure 17 des Koran findet, kann solche Ähnlichkeiten eindrucksvoll zeigen.
Dies gilt natürlich auch für humanistische Ethik ohne religiöse Begründung. Bei seinen Reflexionen zu einer säkularen Ethik betont der französische atheistische Philosoph Luc Ferry die universelle Reichweite genau solcher Weisungen oder Werte – wiederum, ohne auf „Weltethos“ als solches einzugehen. Ferry ist frappiert von der „unglaublichen Unveränderlichkeit der Werte: Ich kann keine Religion oder Ethik sehen, die Mord, Lüge, Egoismus usw. verteidigen würde. Ich würde sogar behaupten, dass es nicht sicher ist, dass in 25 Jahrhunderten Philosophie ein einziger wirklich neuer Wert ‘erfunden‘ wurde.“ Nach Ferry findet jeder Mensch die Vorstellung einer sozusagen absoluten Verpflichtung in sich selbst: „Sie bedeutet nur, dass bestimmte Verbote nicht von den Umständen abhängen, dass sie dem Kontext gegenüber indifferent sind.“x Genau das meint die Erklärung von Chicago, wenn sie von „unverrückbaren“ Weisungen spricht.
Das Weltethos versteht sich in keiner Weise als eine Überreligion oder als ein Ersatz für die Religionen. Es will auch nicht die ethischen Traditionen jeder einzelnen Religion ersetzen: Die Erklärung von Chicago ist kein Ersatz für die Bergpredigt, die Thora oder den Koran! Das Weltethos zeigt nur die bereits existierenden fundamentalen Werte, Massstäbe und Verhaltensweisen auf, die den Religionen gemeinsam sind: ein Grundethos, keine spezielle Ethik. Die Anwendung auf konkrete Lebens- und Handlungsbereiche muss jede Kultur und Religion in ihrer eigenen Weise leisten. Suchen Sie in der Erklärung von Chicago, im Projekt Weltethos keine konkreten Aussagen über Sterbehilfe, Stammzellenforschung oder Reduktion von CO2! Bewusst wird von einem Ethos gesprochen, also einer sittlichen Grundhaltung, nicht von einer Welt-Ethik als System oder als Handlungsleitlinie für Einzelfälle. Eine solche kann es in einer pluralistischen Welt nicht geben. Vielmehr ist Weltethos ein elementarer Grundkonsens über einige verbindliche Werte, unwiderrufliche Massstäbe und persönliche Grundhaltungen, die von allen religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit bejaht werden, und die gemeinsam getragen werden sollen von religiösen und nicht-religiösen Menschen. Hier, so scheint mir, berührt sich faktisch der Weltethos-Gedanke auch mit freimaurerischem Geist, denn mindestens in manchen Richtungen wird die Ethik, verstanden als gemeinsame Basis unterschiedlicher Religionen, als Ausgangspunkt für den gemeinsamen Bau am Tempel der Humanität verstanden. Aus freimaurerischer Sicht kann die Verbreitung der Weltethos-Idee in der Tat als „Teilhabe an einer neuen, weltweiten Aufklärung“ verstanden werden, wie es vor ein paar Jahren in der Zeitschrift „Eleusis“ in einem Artikel zu „Weltethos und Freimaurerei“ geschrieben wurde. xi
Nochmals André Comte-Sponville: „Die Werte sind bekannt. ... Vor mindestens 26 Jahrhunderten hat die Menschheit in allen grossen Kulturen, die damals existierten, die grossen Werte, die uns das Zusammenleben erlauben, ‘selektiert’, wie ein Darwinist sagen würde. ... Wer möchte denn zurückgehen hinter Heraklit oder Konfuzius, hinter Buddha oder Laotse, hinter Zoroaster oder Jesaja? Wiederholen, was sie gesagt haben? Das genügt natürlich nicht. Aber es verstehen, verlängern, aktualisieren, weitergeben! Anders gibt es keinen Fortschritt. ... Machen wir nicht Tabula rasa mit der Vergangenheit! Es geht nicht darum, ausser in Ausnahmefällen, neue Werte zu erfinden; es geht darum, eine neue Treue zu erfinden oder wiederzuerfinden zu den Werten, die wir empfangen haben und die weiterzugeben unsere Aufgabe ist.“xii Wie kann diese Aufgabe praktisch ausgeführt werden?
Ein „Projekt Weltethos“ würde ja wenig verändern, wenn es auf der Ebene einer noch so schlüssigen und attraktiven Theorie stehenbliebe. Weltethos ist ein Projekt auch in dem Sinne, dass es die Dialogfähigkeit ganz praktisch zu fördern sich bemüht. Der von der Erklärung von Chicago ausgehende Appell zur Bewusstseinsveränderung muss die einzelnen Menschen erreichen. Dieser Umsetzung dient besonders die Tätigkeit der 1995 gegründeten Stiftung Weltethos mit ihrem Hauptsitz in Tübingen, sowie ihrer Schwesterstiftungen in der Schweiz und anderen Ländern.
Diese Einrichtung widmet sich interkultureller und interreligiöser Forschung, Bildung und Begegnung auf der Basis des Projekts Weltethos.xiii Dazu gehört vielfältige Vortrags- und Publikationstätigkeit; ein Schwerpunkt liegt auch im Bereich Erziehung 7 und Schule. Mit Hilfe verschiedener Medien trägt die Stiftung dazu bei, in Schule, Lehrerfortbildung, Erwachsenenbildung und breiter Öffentlichkeit die Kenntnis der verschiedenen Religionen zu vertiefen und Aufklärung über das, was sie im Ethos verbindet zu leisten. Herausragende Beispiele sind das Multimedia-Projekt „Spurensuche“ mit seinen sieben Fernsehfilmen über die Weltreligionen, Buch und CD-ROM, und die Wanderausstellung „Weltreligionen – Weltfrieden – Weltethos“, die es in verschiedenen Grössen und Sprachen gibt und die auch schon an vielen Orten in der Schweiz gezeigt wurde, vor Jahren zuallererst im Zürcher Stadthaus. Hilfreich für die Schule ist besonders eine umfangreiche Materialmappe mit Arbeitsmaterialien für Schule, Katechese und andere pädagogische Kontexte vor: „Weltethos in der Schule“. Mit diesen Medien und Materialien kann eine breite Öffentlichkeit erreicht werden und bei vielen Menschen überhaupt einmal Neugier und Interesse für die Impulse der Religionen geweckt werden. Immer wichtiger wird das Internet als Kommunikationsmittel: Die Stiftung Weltethos hat im Lauf der letzten Jahre ein umfangreiches Lernprogramm zum Weltethos im Internet entwickelt: „A Global Ethic Now!“ – es kann frei benutzt werden auf deutsch, englisch und französisch. In der Schweiz hat unsere Stiftung bereits drei Schulwettbewerbe durchgeführt, einen in der Deutschschweiz und zwei in der Romandie. Dabei wurden Schulklassen motiviert, Unterrichtsprojekte zur Weltethos-Thematik zu entwickeln, deren kreativste dann von unserer Stiftung Preise erhalten haben. Zwischen der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz und der Stiftung Weltethos besteht seit einem Jahr feste Zusammenarbeit auf der Basis eines offiziellen Kooperationsvertrags. Damit soll die Weltethos-Thematik regulärer Bestandteil der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen im Bereich Religion und Ethik werden.
Zusätzlich zu dieser Basis-Arbeit in Schule und breiter Öffentlichkeit geht es aber auch darum, die Idee eines gemeinsamen Ethos ins Gespräch zu bringen in Kreisen von Wirtschaft und Politik. Im Jahr 2009 hat eine Expertengruppe der Stiftung aus Unternehmern und Wirtschaftswissenschaftern ein „Manifest zu einem Globalen Wirtschaftsethos“ erarbeitet, das die Prinzipien der Erklärung zum Weltethos auf die Welt der Wirtschaft anwendet und somit elementare ethische Leitlinien für das Wirtschaftsleben bietet. xiv
Ja, sogar bis hinauf in die UNO ist der Weltethos-Ansatz als Beitrag der Religionen für Dialog und Frieden heute anerkannt. Dies zeigte etwa 2003 der Auftritt des damaligen Generalsekretärs Kofi Annan in Tübingen in der Reihe der jährlichen Weltethos- Reden. Seine Aussagen sind deshalb interessant, weil er gerade von einer universellen Position her zur Frage eines Weltethos als Orientierungshilfe im globalen Dorf Stellung genommen hat, nicht im Namen einer bestimmten Religion oder Ideologie. Deshalb soll Kofi Annan in meinen Überlegungen heute Abend das letzte Wort haben: „Jede Gesellschaft muss durch gemeinsame Werte verbunden sein, so dass ihre Mitglieder wissen, was sie voneinander erwarten können, und dass es bestimmte, von allen getragene Grundsätze gibt, die ihnen eine gewaltlose Beilegung ihrer Differenzen ermöglichen. ...
Heute, da die Globalisierung uns alle einander näher bringt..., empfinden wir auch die Notwendigkeit, in einer globalen Gemeinschaft zu leben. Wir können dies nur tun, wenn wir über globale Werte verfügen, die uns verbinden. ... Aber wir dürfen diese universellen Werte nicht für selbstverständlich halten. Sie müssen sorgfältig durchdacht, sie müssen verteidigt und sie müssen gestärkt werden. Und wir müssen in uns selbst den Willen finden, nach den Werten zu leben, die wir 8 verkünden – in unserem Privatleben, in unseren lokalen und nationalen Gemeinwesen und in der Welt.“
i Vgl. bereits Hans Küng (Hrsg.), Ja zum Weltethos. Perspektiven für die Suche nach Orientierung. Piper, München 1995, sowie die neueren Werke: Hans Küng (Hrsg.), Globale Unternehmen – globales Ethos. Der globale Markt erfordert neue Standards und eine globale Rahmenordnung. Frankfurter Allgemeine Buchverlag, Frankfurt/Main 2001; Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan. Fischer, Frankfurt/Main 2001; Hans Küng/Dieter Senghaas (Hrsg.), Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen. Piper, München 2003.
ii Zu Genese und bisheriger Wirkungsgeschichte des Projekts Weltethos anhand von Originaldokumenten und kommentierenden Beiträgen: Hans Küng (Hrsg.), Dokumentation zum Weltethos. TB Serie Piper 3489, München 2002
iii Hans Küng, Projekt Weltethos. Piper, München 1990; TB Serie Piper 1659 (1992)
iv Hans-Martin Schönherr-Mann, Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen. Piper, München 2008; ders., Globale Normen und individuelles Handeln. Die Idee des Weltethos aus emanzipatorischer Perspektive. Königshausen & Neumann, Würzburg 2010 v André Comte-Sponville, L’esprit de l’athéisme. Introduction à une spiritualité sans Dieu. Albin Michel, Paris 2006, S.34 (Übs. GG); deutsch: Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott. Diogenes, Zürich 2008 (Zitat S.37)
vi Text der „Erklärung zum Weltethos“ in: Hans Küng (Hrsg.), Dokumentation, S.15-35
vii André Comte-Sponville, L’esprit de l’athéisme, S.61-62 (= Woran glaubt ein Atheist? S.65-66)
viii Vgl. Martin Bauschke, Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln. Eb-Verlag, Berlin 2010
ix Vgl. Karl-Josef Kuschel, Weltethos und die Erfahrungen der Dichter. Thomas Manns Suche nach einem „Grundgesetz des Menschenanstandes“, in: Hans Küng/Karl-Josef Kuschel (Hrsg.), Wissenschaft und Weltethos. Piper, München 1998, S.455-492
x André Comte-Sponville/Luc Ferry, La sagesse des Modernes. Robert Laffont, Paris 1998, S.307
xi Ulrich Baumann, Weltethos und Freimaurerei, in: Eleusis 6/2004, S.15-20
xii André Comte-Sponville, L’esprit de l’athéisme, S.39 (= Woran glaubt ein Atheist?S.42-43)
xiii www.weltethos.org
xiv Auf deutsch und englisch abgedruckt in: Hans Küng/Klaus M. Leisinger/Josef Wieland (Hrsg.), Manifest Globales Wirtschaftsethos/Manifesto Global Economic Ethic. dtv, München 2010; auch auf www.globaleconomicethic.org. Vgl. auch Hans Küng, Anständig wirtschaften. Piper, München 2010
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